Allgemeine Soziologie
Meine Einladung zur Soziologie

 
 

Abenteuer Soziologie.
Wer sich für „die Wissenschaft von der Gesellschaft“ interessiert,
muss Neugier mitbringen und begeisterungsfähig sein.

von
Dirk Kaesler
Dieser Beitrag erschien im „Marburger UniJournal“ (Nr. 12, Juli 2002)

 
 

Zwei Fragen sind es, die man als Soziologe immer wieder gestellt bekommt: Worum geht es eigentlich in der Soziologie? Und wofür soll das gut sein? Niemand, der dieser Wissenschaft angehört - als Studierende, als Lehrende oder als Forschende - kann diesen beiden Fragen end-gültig ausweichen. Nicht einmal jene, die nie einführende Lehrveranstaltungen anbieten oder nie ein Lehrbuch verfassen werden. Wenigstens Familie und Freunde werden wissen wollen, was Soziologinnen und Soziologen „eigentlich“ so machen, und was man damit anfangen kann.
Daß Soziologie „die Wissenschaft von der Gesellschaft“ ist, wird als Antwort auf diese beiden Fragen nicht sonderlich befriedigen. Darunter kann sowohl zu viel als auch zu wenig verstanden werden. Daß die Soziologie sich mit menschlichem Handeln in gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen befaßt, läßt die meisten Fragenden aufstöhnen, weil das angeblich viel zu kompliziert klingt.
Wie also kann man Verständnis für das Anliegen der Soziologie auf eine Weise wecken, ohne daß es zu trivial noch zu „fachchinesisch“ klingt?

 
 


Eine Wissenschaft von Menschen in Gesellschaften

Fangen wir - nur vermeintlich „umwegig“ - damit an, daß wir zuerst der Frage nachgehen, wer überhaupt dafür geeignet ist, sich auf das intellektuelle Abenteuer des Studiums der Soziologie einzulassen, um dann den Fragen nachzugehen, was man mit dem, was man dadurch gelernt hat, machen kann, und wofür das alles - Studium und Berufstätigkeit - gut sein soll.
Studieren sollten Soziologie nur jene Menschen, die sich wirklich und ganz allgemein für andere Menschen interessieren. Das sind, nach meiner Erfahrung, bedeutend weniger, als vermutet und angegeben wird. Viele sagen zwar, daß sie sich für Andere interessieren, und daß sie beruflich unbedingt etwas „mit Menschen“ machen wollen. Hört man ihnen jedoch länger zu und beobachtet man sie für längere Zeit intensiver, so stellt man zumeist fest, daß sie sich nicht wirklich für Menschen im allgemeinen interessieren, sondern eher allein für Menschen, die so sind wie sie selbst. Die Haupttugend und die wichtigste Eigenschaft, die gute Soziologen jedoch mitbringen müssen, ist Neugier, die durch ganz alltägliche Beobachtungen gerade jener gesellschaftlichen Wirklichkeiten geweckt wird, die einem selbst nicht so vertraut sind, die man als erstaunlich, als befremdlich empfindet.
Wer sich nicht darüber wundert, daß die meisten deutschen Frauen auch bei ihrer stan-desamtlichen Trauung ein weißes Brautkleid tragen, daß sich so wenige deutsche Medizinstu-dentinnen in Hilfsarbeiter verlieben, daß sich dreimal soviel deutsche Männer selbst ums Leben bringen als Frauen, daß gegenwärtig allein ehemalige Ministerpräsidenten realistische Chancen zu haben scheinen, deutsche Bundeskanzler zu werden, daß Sexualstraftäter in deutschen Strafanstalten auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Mitgefangenen stehen, sollte sich nicht dafür entscheiden, Soziologie zu studieren. Wer sich nicht darüber wundert, daß der Bereich der Wirtschaft sich in Gesellschaften unseres Typus immer unabhän-giger von den Interventionen der Politik zu machen scheint, daß die kapitalistische Wirt-schaftsordnung weltweit von keiner ernsthaften Alternative mehr in Frage gestellt zu werden scheint, daß die Konzentration im Mediengeschäft mittlerweile immer direkter in politische Felder eingreift, der wird an der Soziologie keine Freude haben.
Für Angehörige dieser Disziplin wird es keinen Tag geben, an dem sie sich nicht über gesellschaftliche Tatbestände - tatsächliche oder vermeintliche - wundern und die sie neugierig machen. Und die sie fragen lassen: Ist das, was ich an menschlichem Verhalten und Handeln beobachte, worüber ich höre und lese, „tatsächlich“ so? Und, wenn es sich als empirisch gege-ben bestätigt, warum ist es so? Und auch wenn ich (noch) nicht weiß, warum es so ist: was für Folgen dieses Verhalten und Handeln hat, welche „Funktionen“ existierende gesellschaftliche Strukturen und Prozesse erfüllen, - für die einzelnen Menschen und für die Gesellschaften als ganzes.
Neugierig auf andere Menschen sollten selbstverständlich auch jene sein, die sich für fremde und weit zurückliegende Gesellschaften interessieren, die Ethnologen und Historiker also. Soziologen jedenfalls sollten geradezu angeboren neugierig auf Menschen in ihren eigenen und gegenwärtigen Gesellschaften sein. Die Erfahrung des akademischen Studiums der Soziologie kann und muß aus dieser mitgebrachten Disposition den geschulten und disziplinierten „soziologischen Blick“ machen, aber eben diese Disposition kann sie nicht ersetzen.
Neben Neugier und Begeisterung sei noch eine dritte Eigenschaft gestellt, die ebenfalls durch das Studium der wissenschaftlichen Soziologie nicht erzeugt werden kann, die ich jedoch für eine ebenso wichtige Grundlage jeder guten Soziologie halte: sie sollte gewissermaßen „grundiert“ sein von einer prinzipiellen Zuneigung zu Menschen. Niemand kann alle Menschen lieben - außer vielleicht einigen Heiligen - aber sie wenigstens prinzipiell als liebenswert wahr-zunehmen, wird einem den Weg und das Leben im Haus der Soziologie erheblich erfreulicher - und erfolgreicher - machen.

 
 

Das Haus der Soziologie

Ausgerüstet mit Neugier auf, Begeisterung von und grundsätzlicher Zuneigung zu Menschen in gegenwärtigen Gesellschaften sollte sich auf den Weg machen, wer das Haus der Soziologie ken-nenlernen möchte. Mögen auch einige seiner geistigen Fundamente sehr viel früher gelegt worden sein, dieses Haus wurde gerade erst vor wenig mehr als hundert Jahren bezogen.
Der französische Philosoph Auguste Comte, sein erster Architekt, der auch den Hausnamen sociologie erdachte, wurde zwar noch 1798 geboren, seine grundlegenden Konstruktionsideen gewannen jedoch erst allmählich im Laufe des 19. Jahrhunderts Gestalt. Das konzertierte, kultur- und periodenübergreifende wissenschaftliche Projekt Soziologie, von Gelehrten im Okzident des 19. Jahrhunderts begonnen, wurde vor allem ein Gebilde des 20. Jahrhunderts. Seine Schöpfer waren Europäer weißer Hautfarbe, aufgewachsen im jüdisch-christlich geprägten Abendland der frühen Moderne. Auch wenn heute Menschen aller Teile dieses Planeten Erde im globalen Haus der Soziologie leben und arbeiten, so trägt ihr Fach doch bis heute tiefe Spuren seiner Entstehungsge-schichte.
Wer sich also zu Beginn des 21. Jahrhunderts seinen eigenen Weg in dieses Haus der So-ziologie bahnen will, muß sich dessen komplizierten Bauplan selbst erarbeiten. Natürlich werden Lehrende und Lehrbücher dabei helfen, die eigentliche Orientierungsleistung jedoch kann einem niemand abnehmen. Eine der vielen Schwierigkeiten dabei ist die Tatsache, daß die internationale Soziologie gegenwärtig in einer derartigen Spannbreite auftritt, daß es ständig aufs neue gilt, ihre Fragestellungen, Arbeitsfelder und Methodologien selbstkritisch zu lokalisieren. Formulierten schon die soziologischen Entwürfe des frühen 20. Jahrhunderts keine konsensfähige disziplinäre wissenschaftliche Identität, so wird das gegenwärtige Erscheinungsbild der internationalen Soziologie immer diffuser. Diese fehlende Einheit führt zunehmend dazu, daß sich Soziologen und Soziologinnen der verschiedenen Lager kaum noch über Erkenntnisfortschritte verständigen können, da ihnen eine gemeinsame Sprache zu fehlen scheint, - vielleicht sogar das gemeinsame Objekt. Noch unübersichtlicher wird die Situation, berücksichtigt man die vielfältigen Unter-, Neben- und Teilgebiete der Soziologie und die zahlreichen interdisziplinären Kontexte, in denen soziologisches Forschen heute geschieht.
Wer in letzter Zeit an Soziologietreffen teilnimmt und die Publikationen durchsieht, die dort verhandelt werden, erkennt, daß die wissenschaftlichen Spezialitäten nicht nur aus sehr unterschied-lichen Richtungen auf sehr unterschiedliche Ausschnitte sozialer und historischer Wirklichkeiten blicken, sondern daß es dafür immer weniger relevante gemeinsame Nenner gibt. Jener soziologi-sche Forscher, der mit Massendaten aus der Meinungsforschung arbeitet, und jene Soziologin, die sich mit der Ideengeschichte unseres Faches aus soziologischer Perspektive befaßt, werden sich nur mit Mühe darüber verständigen können, ob und wie ihre Forschungen letztlich unter einem gemeinsamen disziplinären Dach zu beherbergen wären.
Um es auf einen (vermeintlich) einfachen Nenner zu bringen: In der wissenschaftlichen So-ziologie fehlt die Verbindlichkeit eines „Kanons“. Das hat folgenreiche Konsequenzen für alle jene Menschen, die sich ernsthaft auf das wissenschaftliche Studium dieses Faches einlassen wollen. Und das macht es eben so schwer, die eingangs genannten Fragen nach dem „Wesen“ der Soziologie und ihrem „Wozu“ zu beantworten.

 
 

Über einen Kanon für das Haus der Soziologie

Der Streit darüber, ob es so etwas wie eine verbindliche Liste von Autoren und Texten geben soll, über deren Kenntnis definiert werden kann, ob jemand zu einem Gebiet zugelassen wird oder nicht, ist so alt wie die Versuche, einen solchen Kanon zu kodifizieren. Um den befürchteten Verlust der kulturellen Überlieferung aufzuhalten, werden von einigen obligatorische Lehrpläne und die Festlegung von Pflichtlektüre diskutiert. Traditionsignoranten und Traditionsfeinde malen das Gespenst eines exklusiven, angeblich bildungsbürgerlichen und repressiven Herrschaftsinstruments an die Schultafeln; einfallslose Traditionsbewahrer sehen in jeder Revision und Erweiterung petrifizierter Kodizes den angeblichen Untergang des kulturellen Erbes. Weniger noch als in anderen Geistes- und Kulturwissenschaften gab es in der Soziologie jemals eine sakrosankte Sammlung, die die maß-geblichen Texte definierte. Schon weil es an Instanzen fehlt, die "kanonische" Schriften von "A-pokryphen" unterscheiden könnten, lassen sich allenfalls für national verfaßte Soziologien relativ stabile Literaturlisten rekonstruieren.
Jenseits dieses Streits jedoch wird festzuhalten sein, daß eine wissenschaftliche Soziologie, wie sie an deutschen Universitäten vertreten wird, von ihren Studierenden zu allererst Lesearbeit erwarten muß, für die sie jedoch kompetente Hilfestellung anzubieten hat. Der reichhaltige Fundus an soziologischen „Klassikern“ und soziologischen „Hauptwerken“ muß von allen, die in dieses Fach eintreten wollen, durch eigene Lektüre selbst erarbeitet werden. Wissenschaftliches Lesen muß man lernen und selbst leisten, - daran ändern auch die modernsten elektronischen Medien nichts. Aber weil die Zeit für diese Lesearbeit immer knapper zu werden scheint, muß die Auswahl immer kritischer getroffen werden. Allein die Frage, welche soziologischen Werke auch heute noch Maßstäbe für eigenes Denken und künftiges Arbeiten bereitstellen, ist maßgeblich. Zentrale Funktion soziologischer Klassiker und soziologischer Hauptwerke ist es, die Richtschnur für den Weiterbau des gegenwärtigen und zukünftigen Hauses der Soziologie bereitzustellen.
Gerade mit Blick auf diejenigen, die das intellektuelle Abenteuer der Soziologie als Studierende erst kennenlernen wollen, sei betont, daß es eine der zentralen Verantwortlichkeiten von uns Lehrenden anspricht, für die unstrittige Qualität unserer Auswahl der zu lesenden Texte soziologischer Klassiker und Hauptwerke, sowie der aktuellen Literatur zu sorgen. Solche Auswahl ist das Gegenteil von repressiver Exklusivität. Allein durch die innerdisziplinäre Absprache darüber, was wichtig und gut ist, was man lesen, wovon man sprechen sollte, kann innerwissenschaftliche Öffent-lichkeit hergestellt werden. Verantwortliche Sammlungen von Klassikern, Hauptwerken und relevanter Gegenwartsliteratur sind wirkungsvolle Instrumente gegen die Etablierung von Geheimwissen, das aus Quellen schöpft, die anderen verborgen bleiben. Erst die Diskussion über einen Kanon soziologischer Fachliteratur stellt innerwissenschaftliche Offenheit her, weil nur in ihr über permanent notwendige Revisionen, Erweiterungen und Streichungen verhandelt werden kann.
Allein auf diese Weise kann verhindert werden, daß die Soziologie mit der Zeit ihre Identität als Disziplin verliert und sich in der Mannigfaltigkeit ihrer „Ansätze“ und Methoden auflösen könnte. Die Diskussionen über die „Einheit der Soziologie“, ob nun als vermeintliche, anzustrebende oder zu überwindende, werden immer erneut geführt werden müssen, gerade angesichts der schil-lernden Vielfalt der Disziplin und der feststellbaren Tendenz zur Verfestigung lokaler und nationaler Soziologie-Verständnisse. Dabei sollte es als selbstverständlich gelten, die Vielgestaltigkeit der Soziologie ohne Einschränkungen als positiv zu bewerten. Gerade aus (wissenschafts)soziologischer Perspektive muß sie als Zeichen disziplinärer Lebendigkeit und Zukunftsfähigkeit gelesen werden.
Analytisch muß jedoch diese als positiv zu beurteilende Vielfältigkeit des Disziplinverständnisses getrennt werden von dessen Gefährdung durch weitgehende Beliebigkeit. Genau da sind die Beiträge soziologischer Klassiker und Hauptwerke von unverzichtbarer Bedeutung: Sie stellen „mustergültige“, vorbildliche Schriften bereit, sie repräsentieren das kulturelle Gedächtnis des Fa-ches und liefern zugleich in ihrer historischen Abfolge die Lebensgeschichte dieser Disziplin. Auch die Soziologie kann nicht ohne ihr Gedächtnis und ihre Geschichte fruchtbringend weiterleben. Nicht nur ihre gegenwärtigen Aktivitäten, sondern auch die Erinnerung an zurückliegende Etappen der Entwicklung sind es, die den Kern einer Identität prägen, auch die einer wissenschaftlichen Disziplin.
Diesen Vorgaben muß das universitäre Studium der Soziologie konsequent entsprechen. Es muß geleitet sein von der Überzeugung, daß Soziologie jene Wissenschaft ist, die empirisch über-prüfbare Aussagen über soziale Wirklichkeiten mit theoretischen Erklärungen tatsächlicher gesell-schaftlicher Verhältnisse intersubjektiv nachvollziehbar verbindet. An dieser Überzeugung orien-tiert, unternimmt ein sinnvoll organisiertes Studium der Soziologie den Versuch, sich von einer al-lein antiquarischen Vergangenheitspflege energisch abzugrenzen durch eine nüchterne Bilanzierung aktueller Nützlichkeit klassischer und aktueller Beiträge der Soziologie für gegenwärtige und zukünftige, insbesondere empirische Forschungsarbeit. Diese „Nützlichkeit“ bezieht sich gleichermaßen auf den beschreibenden, verstehenden, erklärenden und prognostischen Wert soziologischer Begrifflichkeit, ihrer theoretischen Perspektiven und ihrer empirischen Funde.
Wenig vom eigenartigen Charakter der wissenschaftlichen Soziologie hat verstanden, wer sie als eine sich kumulativ entwickelnde Wissenschaft bestimmen möchte. Wer seine Kritik daran ausrichtet, daß die Soziologie von solcher Zielvorstellung abweicht, verkennt, daß diese nicht nur eine empirisch basierte Wissenschaft ist, sondern daß sie zugleich auf einem zeitgebundenen, ideologischen und metaphorischen Rahmenwerk aufsitzt. Daraus ergibt sich eine prinzipielle, nicht auf-zuhebende Spannung zwischen den vielfältigen „Theorien“ der Soziologie und der sogenannten „Praxis“ ihrer Umgebung.

 
 


Das Ende der Soziologie?

Der manchen Orts angestimmte Abgesang an die Soziologie würde sich harmonisch einstim-men in jene Klänge, die uns seit längerem verkünden wollen, daß selbst wenn das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Soziologie gewesen sein mag, dieses jedoch mit dem 20. Jahrhundert als dem der Physik abgelöst wurde, welches selbst wiederum - mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts – vom Jahrhundert der Biologie verabschiedet werde.
Am Beginn eben dieses 21. Jahrhunderts erweist sich das oben angedeutete Bild vom „Haus der Soziologie“ als hilfreich, um sich über Nutzen und Grenzen der Erstellung eines Kanons - sowohl von Klassikern wie von Hauptwerken - in der und für die Soziologie zu verständigen. Erst sehr allmählich im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die geistigen Fundamente dieses Hauses gelegt, geformt aus dem Baumaterial insbesondere der Philosophie und der Staatswissenschaften. Das wissenschaftliche Unternehmen Soziologie hat sich während der beiden zu-rückliegenden Jahrhunderte von einem anfänglich recht einfachen Haus zu einem verzweigten Komplex zahlreicher Gebäude mit vielen Stockwerken und einer Unmenge von Räumen entwickelt, in denen heute eine erhebliche Anzahl von Menschen in allen Teilen dieser Welt lebt und arbeitet.
Wir als Lehrende müssen denjenigen, die mit ernsthaften Absichten ihren eigenen Weg in diesem Haus finden wollen, dabei helfen, die historischen und aktuellen Beiträge der Soziologie zum heutigen Wissen der Menschheit über gesellschaftliche Zustände und Prozesse kennenzulernen. Ohne die Soziologie, ohne jene Menschen also, die ihr empirisches und theoretisches Wissen in Textform veröffentlicht haben, wüßte die Menschheit weniger über sich selbst, als sie heute weiß. Naturgemäß fallen solche Beiträge von Autor zu Autor und von Buch zu Buch unterschiedlich groß aus.
Die epochalen Hauptwerke der „Soziologischen Dreifaltigkeit“, gebildet von Karl Marx, E-mile Durkheim und Max Weber, Das Kapital (1867-1894), De la division du travail social (1893) und Wirtschaft und Gesellschaft (1922) repräsentieren jeweils nicht nur einen Kosmos soziologischer Erkenntnisse, sie chiffrieren gleichermaßen Meilensteine bei der Herausbildung eines allgemei-nen Erkenntnisstandes der europäischen Neuzeit über sich selbst. Und sie stehen keineswegs so isoliert da, wie es dem auf diese drei soziologischen ÜberKlassiker fixierten Blick oft scheinen mag. Georg Simmels „große“ Soziologie von 1908, Ideologie und Utopie von Karl Mannheim aus dem Jahr 1921, Über den Prozeß der Zivilisation von Norbert Elias von 1939, Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aus den Jahren 1944-1947: sie alle signalisieren ausgewählte Werke, die ganz allgemein zum Bildungsgut des 20. Jahrhunderts gehören, an dessen Erarbeitung die wissenschaftliche Soziologie ihren maßgeblichen Beitrag geleistet hat. Wer die Entwicklung unseres Faches über einen Zeitraum von so unterschiedlichen Perioden und in so diversen Kulturbereichen ohne Voreingenommenheit betrachtet und dessen materielle Ergebnisse insgesamt begutachtet, kann nicht anders als positiv beeindruckt sein!
Ungeachtet ihrer historischen Verdienste bleibt dennoch die Frage, wie es mit der Soziologie im 21. Jahrhundert weitergehen wird. Darauf gibt es sicherlich viele mögliche Antworten. Sie werden jedoch vor allem von denjenigen geliefert werden müssen, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit ihrem Studieren und Lehren der Soziologie beginnen und weitermachen dür-fen. Sie alle werden gleichermaßen vor zwei häufig miteinander konkurrierenden Ansprüchen ste-hen: zum einen, sich mit dem bisherigen inhaltlichen, theoretischen und methodologischen Erbe der Soziologie auseinanderzusetzen, zum anderen werden sie zeigen müssen, daß sie nicht nur in rückwärtsgewandter Blickrichtung Soziologie dadurch betreiben, daß sie die Begrifflichkeit und die Perspektiven der beiden zurückliegenden Jahrhunderte endlos rekombinieren, sondern tatsächlich zu neuen soziologischen Erkenntnissen gelangen.

 
  Erwartungen an die künftigen Bewohner des Hauses der Soziologie

Wir derzeitigen Bewohner und Arbeiter im Haus der Soziologie dürfen also gespannt sein, ob sich die zukünftigen Bewohner dieses Hauses damit begnügen werden, sich im weitläufigen Gebäude-komplex des bereits stehenden Gebäudes ein kommodes Plätzchen zu sichern. Oder ob es an vielen Orten, ihren Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen, viele Neubaustellen der Soziologie geben wird, die unserem Fach neue empirische Befunde, neue Perspektiven auf diese, neue Begriffe und neue Theorien zu deren wissenschaftlicher Erfassung eröffnen. Es sei dem Haus der Soziologie insgesamt gewünscht.
Damit kommen wir abschließend zur Frage, wozu das ganze Unternehmen Soziologie überhaupt (noch?) gut sein soll. Für meine Antwort auf diese oft recht leichtfertig gestellte Frage gilt, daß nur eine Soziologie, die sich in wissenschaftlicher und engagierter Weise mit den realen Problemen der Menschen in den sie umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten auseinandersetzt, ihre Legitimation im Hinblick auf jene ursprünglichen Gründungsabsichten erwirbt, die hinter der intellektuellen und institutionellen Formation unserer Disziplin standen. Die Soziologie wäre „nicht eine Stunde der Mühe wert, wenn sie ein für Experten reserviertes Wissen von Experten wäre“ (Pierre Bourdieu).
Gefragt nach dem größten Nutzen der Soziologie biete ich meinen Studierenden folgende vier Grundüberzeugungen an:

1) Die wissenschaftliche Soziologie ermöglicht es, den naiven Blick auf die Kompliziertheit gesellschaftlicher und historischer Wirklichkeit durch eine wissenschaftlich geschulte Sichtweise zu ersetzen, die eben dieser Kompliziertheit der Verhältnisse angemessen ist.

2) Dadurch ermöglicht die Soziologie den Menschen, einen wissenschaftlich gebildeten Blick für und das Wissen um ihre realistischen Möglichkeiten in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht zu erwerben, sowie um die dabei gegebenen Schwierigkeiten und Grenzen zu wissen.

3) In diesem Sinn ist die wissenschaftliche Soziologie - im Verbund mit anderen Sozi-alwissenschaften - ein unschlagbares Instrument bei der Entwicklung aufgeklärter Konzepte menschenwürdiger Gesellschaftsordnungen, die es ermöglichen, die Erfordernisse der jeweils individuellen Selbstverwirklichung in sozialen Ordnungen konstruktiv miteinander zu verbinden.

4) Nachdem die wissenschaftliche Soziologie ganz wesentlich dazu beigetragen hat, das Wissen um die Selbstreflexivität gesellschaftlicher Wirklichkeit zu erarbeiten, ist es ihr größter praktischer Nutzen, an der Schaffung gesellschaftlicher Wirklichkeiten in aufgeklärter und kritischer Weise mitzuwirken.

 
  Meine Erwartungen an unsere Studierenden, die sich diesem Unternehmen Soziologie anschließen wollen, sind also recht einfach: Sie sollen sich auf das intellektuelle Abenteuer Soziologie mit Neugier, Wißbegier, Lernbereitschaft und Durchhaltevermögen einlassen. Das wissenschaftliche Studium der Soziologie eröffnet die große Chance, sich auf der Basis intensiver Lesearbeit und den darauf aufbauenden Diskussionen, drängenden Fragen an gesellschaftliche Wirklichkeit zu stellen, aufmerksam die permanenten Veränderungsprozesse in Gesellschaften empirisch und theoretisch zu verfolgen und historische Etappen gesellschaftlicher Entwicklungen wissenschaftlich fundiert zu rekonstruieren. Wer zu allem diesem nicht bereit - oder nicht in der Lage - ist, wird sich ganz sicher große Ent-Täuschungen beim wissenschaftlichen Studium der Soziologie einhandeln.
Daß ein solches wissenschaftliches Studium der Soziologie an der Philipps-Universität (noch) gut möglich ist, werden diejenigen bestätigen, die unser sachliches und personelles Angebot mit dem an anderen deutschen Universitäten aktuell vergleichen. Die personelle und programmatische Vielfalt der Marburger Soziologie macht unser Institut zu einem anerkannten Studienort für ein theoretisch und methodisch grundsolides und vielseitiges Soziologie-Studium mit einigen scharf konturierten Spezialitäten, die sich insbesondere mit den politischen Aspekten gesell-schaftlicher Wirklichkeiten auseinandersetzen.
Daß die Hochschulpolitik des Landes Hessen dieses Standortprofil der Marburger Soziologie immer wieder bedroht, kann kaum bestritten werden. Nur die gemeinsame Bereitschaft von Universitätsleitung zusammen mit den Lehrenden und Studierenden des Fachs, die Marburger Sozio-logie auch in Zukunft entschlossen zu verteidigen und die unverzichtbare Verbindung von Forschung und Lehre aufrechtzuerhalten, wird uns im Widerstand gegen allein technokratische Verwertungsinteressen an unserer Arbeit stärken.